Ausgezeichnet mit dem Max-Friedlaender-Preis 2024
Ein Rechtsstaat ohne Soziales sei wie eine Mauer ohne Mörtel, sagte der Präsident des Bayerischen Anwaltverbands, Michael Dudek, in seiner Begrüßung. In den Köpfen der Bevölkerung brauche es mehr Barrierefreiheit, betonte Kabarettist Urban Priol in seiner Laudatio. Dass ich für mein Engagement für soziale Gerechtigkeit und Inklusion mit dem Max-Friedlaender-Preis des Bayerischen Anwaltverbandes im Münchner Künstlerhaus geehrt wurde, hat mich sehr berührt. Meine Rede finden Sie im Folgenden zum Nachlesen.
Meine Rede anlässlich der Verleihung des Max-Friedlaender-Preises 2024
"Sehr geehrter, lieber Herr Dudek, lieber Urban Priol, werte Vertreterinnen und Vertreter der bayerischen Justiz, meine sehr geehrten Damen und Herren, zu allererst möchte ich Ihnen und allen, die mir diese „Goldmedaille“ des Bayerischen Anwaltverbands verliehen haben, sehr herzlich danken. Es ist mir eine ganz besondere Ehre, in einer Reihe mit Persönlichkeiten wie Dr. h.c. Hildegund Holzheid, Hans-Jochen Vogel, Prof. Dr. Norbert Lammert und Prof. Dr. Bernhard Schlink zu stehen.
Als ich von der Nominierung für diesen Preis erfuhr, hatte ich zunächst mehr Fragen als Antworten. Als Bayerischer Anwaltverband verleihen Sie jährlich den Max-Friedlaender-Preis an Persönlichkeiten, die Herausragendes für das Rechtswesen, die Anwaltschaft oder die Gesellschaft geleistet haben. Nach näherer Befassung mit dem Preis und den bisherigen Preisträgern, aber vor allem nach der Eingangsrede des Präsidenten des Bayerischen Anwaltverbands, Michael Dudek, wurden für mich der Preis und seine Botschaft lebendig und greifbar.
„Denn, um klar zu sehen, genügt ein Wechsel der Blickrichtung.“ (Antoine de Saint-Exupéry)
Eben dieses klar Sehen, den Durchblick behalten im Dschungel des Sozialstaats, das ist unser handlungsleitendes Thema im Sozialverband VdK. Und ich meine das als blinde Frau keineswegs ironisch, eher mit einem kritischen Zwinkern hin zu den Wirren, in denen sich viele Menschen Tag für Tag finden, im Versuch, sich durch unser System der sozialen Sicherung, der bürokratischen Hürden und alltäglichen Herausforderungen zu manövrieren. Diese Manöver bedeuten nicht, wie das gern verkürzt von manchen zum Populismus Neigenden in der öffentlichen Diskussion dargestellt wird, dass viele Menschen das Ziel ihrer Träume mit dem Bezug von Sozialleistungen erreicht haben. Die Bedeutung der Arbeit, die in unseren 69 Kreisverbänden geleistet wird, liegt vielmehr darin, dass Ansprüche, die bestehen, eingelöst, dass Möglichkeiten, die wir als starke Gemeinschaft schaffen, genutzt werden.
Wie steht es also um diesen so viel zitierten, von manchen kritisierten und am Ende so notwendigen Sozialstaat? Im Sozialverband VdK befassen wir uns, wie mit einem wertvollen Diamanten, mit dem Sozialstaat, mit seiner Funktionsweise und vor allem mit den Menschen, für die die Verlässlichkeit der Gemeinschaft eine wesentliche Konstante ist. Eine Konstante im Übrigen, die auch und gerade heute besonders für eine starke Demokratie ein wesentlicher Stabilisator ist. Für Populisten und Extremisten ist der Angriff auf das, was wir uns erarbeitet haben, leider allzu einfach geworden. Aufforderungen zum Sparen an Sozialleistungen rufen zu schnelle Begeisterungsstürme hervor, Rufe nach einer Erhöhung der Einnahmenseite, nach einer höheren Besteuerung sehr großer Erbschaften oder von Kapitalerträgen hingegen sind oft nur als leise Frage zu hören.
Der Sozialstaat ist eine große Errungenschaft, keine Selbstverständlichkeit, die unumstößlich ist. Immer wieder können wir beobachten, wie die soziale Sicherung, zum Beispiel die Kindergrundsicherung oder das Bürgergeld, mehr zum Stein des Anstoßes werden, weniger zum Teil einer Lösung für die, die es beziehen. Diese Deutungshoheit haben wir alle selbst in der Hand. Wir haben es in der Hand, ob wir das vom Bundesverfassungsgericht geschützte Recht auf ein Existenzminimum als positive Übereinkunft der Gemeinschaft sehen, ob wir Möglichkeiten der Bildung, der Qualifizierung und Weiterbildung als persönliche und auch langfristige volkswirtschaftliche Chance sehen, oder ob wir denen unser Ohr leihen, die in steter Regelmäßigkeit wiederholen, dass da draußen manche nicht arbeiten wollen, das System ausnutzen und kein Teil der leistungsfähigen, starken und veränderungswilligen Gemeinschaft sein wollen.
Wer sind diese Starken heute? Sind es die, die ihr Geld für sich arbeiten lassen und immer größeren Wohlstand anhäufen? Sind die Leistungsfähigen die, die unsere sozialen Sicherungssysteme gemeinsam tragen?
Für die 2,3 Millionen Mitglieder, die im Sozialverband VdK zusammengeschlossen sind, ist klar, dass sich eine leistungsfähige Gemeinschaft auch daran messen lassen muss, wie sie auch die unterstützt, die nicht laut sind, die wenig Einfluss haben, die nicht täglich die Unterstützung erfahren, die sie brauchen, um ihre Potentiale zu nutzen.
Unsere Leistungsfähigkeit, weniger individuell, denn mehr gesamtgesellschaftlich gesehen, bemisst sich auch daran, ob und wie Frauen und Männer nach einem langen Arbeitsleben von ihrer Rente leben können. Sie bemisst sich daran, ob wir in unserer Gesundheitsversorgung vor allem die gut versorgen, die privat versichert sind oder ob der Maßstab der Bedarf derer ist, die dringend eine gute Versorgung benötigen.
Die gesellschaftliche Veränderung sind wir alle. Wir alle können uns dafür entscheiden, dass wir auch Beamtinnen und Beamte, Selbstständige und freie Berufe, wie Anwältinnen und Anwälte sowie Abgeordnete als Teil der Lösung für eine faire Absicherung aller in unsere sozialen Sicherungssysteme wie die gesetzliche Kranken- oder Rentenversicherung einbeziehen.
Das Vertrauen in den Sozialstaat basiert darauf, dass Leistungen definiert sind, auf die durch die Sozialversicherungen Anspruch besteht.
Viele Menschen kennen ihre Ansprüche kaum oder überhaupt nicht, oder sie scheuen sich, diese einzufordern. Das verdeutlicht auch, dass allein im VdK Bayern unsere Rechtsberaterinnen und -berater von Januar bis Oktober 2024 unseren 835.000 Mitgliedern in Freistaat durch 325.671 Beratungen Unterstützung gegeben haben. Des Weiteren wurden 94.772 Anträge gestellt, 31.762 mal wurde Widerspruch eingelegt und 8.325 mal geklagt.
Diese Zahlen zeigen eindrucksvoll, dass sich unsere Mitglieder auf die Expertinnen und Experten im Sozialrecht verlassen können. Sie zeigen aber auch, dass unkomplizierte Zugänge zu den Leistungen, ja den rechtlichen Ansprüchen noch immer ein wichtiges Thema ist, das zu lösen eine wesentliche Aufgabe für kommende Regierungen bleibt.
Umso erstaunlicher ist es auch, dass im zweiten juristischen Staatsexamen zwar das Wasserrecht, jedoch nicht das Sozialrecht verpflichtender Ausbildungsgegenstand ist. Vielleicht wäre ein wenig mehr Sozialrecht ja eine Möglichkeit, um wichtige Themen noch mehr und umfassender im Bewusstsein zu verankern.
Als ehemalige Sportlerin bin ich mit dem Prinzip Leistung vertraut. Was als jedoch außerhalb der Langlaufloipe oder des Fußballstadions als „Leistung“ zählt, unterliegt der kollektiven Übereinkunft. Die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung um ihre Deutung bleibt unverzichtbar und darf nicht allein denen überlassen werden, die mehr Zeit und Kompetenzen für diese Deutung haben und auch mehr Möglichkeiten, ihre Deutung zu verbreiten. Allzu oft haben sie ihre Möglichkeiten genutzt für eigene Interessen.
Wenn Leistung vor allem als der Motor für Innovation und Veränderung einerseits, andererseits als ein positiver Begriff für einen leistungsfähigen Sozialstaat mit „Leistungen“, auf die Menschen Ansprüche haben, gesehen wird, dann nähern wir uns dem Begriff auf eine versöhnliche, politisch wirksame und gesellschaftlich befriedende Weise.
Für dieses Prinzip Leistung einzustehen, ist und bleibt für mich eine Aufgabe, die mich noch lange begleiten wird.
Ich danke Ihnen für die Ermutigung, die Sie mir mit dem Max-Friedlaender-Preis gegeben haben. Ich danke Ihnen heute aber auch für Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Wirken in der Gesellschaft, das so nötig wie möglich ist."
Ich wünsche Ihnen allen ein frohes, besinnliches Weihnachtsfest.
Ihre Verena Bentele
Bildnachweis: Sabine Gassner / Bayerischer Anwaltverband